Die Gesichter des Aussterbens

22.05.2024

Ein wichtiger Grund für die Umweltkrise ist das so genannte „Aussterben der Erfahrung“

Wie sieht ein typischer Tag im Leben des Europäischen Hamsters (C. cricetus) aus?  Was frisst er gerne, mit wem verkehrt er, wann geht er ins Bett?  Nicht nur der Europäische Hamster, sondern sogar jede vierte Art ist vom Aussterben bedroht.  Wir haben diese Zahlen in vielen Nachrichten gehört, aber wissen wir auch, was sie bedeuten?  Kennen wir eine dieser Arten persönlich?  Wie sehen sie aus, und wie sieht ihr Leben aus?

Ein wichtiger Grund für die Umweltkrise ist das so genannte „Aussterben der Erfahrung“, oder anders ausgedrückt: die zunehmende Distanz zwischen uns und der Natur.  Immer weniger Menschen haben eine intime Kenntnis der Natur oder eine emotionale Bindung zu ihr.  Und warum sollten wir uns um etwas kümmern, von dem wir nichts wissen oder mit dem wir uns in irgendeiner Weise verbunden fühlen?  In meiner Forschung untersuche ich daher verschiedene Möglichkeiten, die Menschen wieder mit der Natur zu verbinden.  In dieser Geschichte möchte ich über die Entwicklung eines Lehrmoduls an der Universität Wien berichten, in dem meine Studenten und ich die Kraft des Geschichtenerzählens und der Personifizierung nutzten, um Menschen mit gefährdeten Arten in Österreich in Verbindung zu bringen.

Unter dem Titel „Die Gesichter des Aussterbens“ entwickelten meine SchülerInnen und ich ein Portfolio mit 20 Geschichten* über 20 verschiedene Tiere.  Alle Arten wurden von der IUCN als in Österreich (kritisch) bedroht eingestuft.  Unsere Geschichten repräsentieren ein breites Spektrum an taxonomischen Klassen, Ordnungen und Familien: von der Süßwasserperlmuschel (M. margaritifera) oder der unerwarteten Hummel (B. inexpectatus) bis zu bekannteren Arten wie dem Beluga-Stör (H. huso) oder dem Sakerfalken (F. cherrug).  Jeder Schüler und jede Schülerin wählte eine Tierart aus und entwickelte unter der Aufsicht der Tiererkennungsforscherin Dr. Cliodhna Quigley und der Expertin für Wissenschaftskommunikation, Isolde Gottwald, eine erzählerische Biografie: eine kurze Geschichte, die das Leben dieses Tieres beschreibt und Elemente der Personifizierung, Dramatisierung und Emotionalisierung enthält.  Es hat sich gezeigt, dass solche Erzählungen den Glauben und die Emotionen der Menschen viel stärker beeinflussen als nackte wissenschaftliche Fakten, insbesondere im Bereich von Umweltthemen.

Nun bin ich nicht jemand, der sich stark mit der Natur identifiziert.  Ich könnte Ihnen nicht viel über eine Pflanze oder einen Vogel in freier Wildbahn sagen, außer dass es sich wahrscheinlich um einen Vogel oder eine Pflanze handelt.  Doch als ich von diesen gefährdeten Arten erfuhr, hat sich etwas in mir verändert.  Wussten Sie, dass die Unerwartete Hummel die meiste Zeit ihrer Existenz im Verborgenen verbracht hat, weil sie so gut darin war, ihren Cousin (die normale Hummel) zu imitieren, dass Wissenschaftler sie bis vor kurzem nicht auseinanderhalten konnten?  Oder wussten Sie, dass der Beluga-Stör sich den Ort seiner Geburt merkt und jedes Jahr an diesen Ort zurückkehrt, um sich fortzupflanzen?  Durch den weit verbreiteten Bau von Dämmen können viele Störe ihren Geburtsort jedoch nicht mehr erreichen.  Stattdessen bemühen sie sich, alternative Routen zu finden.  Wissenschaftler entdeckten sogar einen Teil der Persönlichkeit der Störe, denn es stellte sich heraus, dass einige Störe risikofreudiger sind als andere.  Wenn sie mit einem Hindernis konfrontiert werden, gehen manche das große persönliche Risiko ein, den Damm zu durchbrechen oder sogar einen Umweg von Hunderten von Kilometern zu finden, um ihren Geburtsort zu erreichen, während andere einfach ihren Rogen in das nächste akzeptabel aussehende Flussbett werfen und das Beste hoffen (als Stör würde ich mit Sicherheit in die zweite Kategorie fallen).

Die Geschichten hören hier nicht auf.  Je mehr man über Tiere und ihr Verhalten liest, desto mehr wird einem klar, dass jedes einzelne dieser Tiere eine einzigartige Erfahrung mit der Welt hat.  Die Gesichter des Aussterbens erzählen viele Geschichten: in mancher Hinsicht anders als wir, und manchmal auch überraschend ähnlich.  In jedem Fall sind sie unvorstellbar reich und vielfältig. Irgendwie haben wir es geschafft, ihre Welten in unsere eigene zu verwickeln - und sie alle, zusammen mit uns, zu zwingen, sich den Konsequenzen zu stellen.  Die Begegnung mit den Gesichtern des Aussterbens durch das Erzählen von Geschichten kann ein wirkungsvoller Weg sein, sich wieder mit der Natur zu verbinden.  Es kann ein Gefühl der Ehrfurcht vor dem Reichtum und der Vielfalt unseres Planeten hervorrufen, Wissen über die Komplexität der Fähigkeiten und Erfahrungen anderer Tiere vermitteln und uns letztlich an die Verantwortung erinnern, die wir nicht nur für uns selbst, sondern für alle unsere Nachbarn auf unserem Planeten haben.

 

* Die Geschichten können auf Anfrage weitergegeben werden.

 

 

Weiterführende Literatur:

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